Dienstag, 15. Oktober 2013

Schrödingers Katzenvideo Oder Viralität, Wahrheit, Medien und was Menschen nicht wissen wollen

Anfang Oktober flatterte ein herziges Stück viraler Content durchs Netz. Ein handgeschriebener Brief eines Großvaters, der seiner Tochter verbal die Ohren langzog, weil diese ihren schwulen Sohn verstoßen hatte. Das Ding habt ihr vermutlich irgendwo gesehen.

Kurz danach begann eine Diskussion darüber, dass Nullkommagarnix die Authentizität dieses Schriebs bestätigt, der von einer Modemarke ins Netz geschoben wurde, was Mediensites aber nicht davon abhielt, treuherzig darüber zu berichten. Eine Diskussion über "viral bullshit" (Jeff Jarvis) und "The slippery slope between viral and true" (Mathew Ingram). Angestoßen auf Gawker, von Gawker-Gründer Nick Denton.

Davon haben die meisten vermutlich nichts mitbekommen. Und das skizziert gut einen Teil des Problems, um das es hier geht.

Bei der Diskussion auf Gawker zwischen Chefredakteur, zuständigem Redakteur und Gründer ging es darum, ob es zu rechtfertigen ist, Inhalt mit Viralpotential einfach nur um des Traffic willens aufzugreifen - oder ob es nicht die verdammte Pflicht von Redaktionen wäre, nur Verifiziertes aufzugreifen.

Es gab ein paar interessante Sätze dabei, etwa  von Chefredakteur John Cook, über das Spannungsverhältnis sauberen Arbeitens versus Geschwindigkeit und Traffic:
"(...) we are tasked both with extending the legacy of what Gawker has always been—ruthless honesty—and be reliably and speedily on top of internet culture all while getting a shit-ton of traffic. Those goals are sometimes in tension."

Oder vom zuständigen Redakteur, dessen Job viral beschaffter Traffic ist:

"People don't look to these stories for hard facts and shoe-leather reporting. They look to them for fleeting instances of joy or comfort. (...)
Take a video I recently posted of a firefighter rescuing a kitten from a burning building. That kitten later died — a fact I included in an otherwise straightforward feel-good "cat video" post. That "oversharing" damaged the virality of that post, as the top comment chiding me for providing too much information clearly indicates.
You really can't have it both ways when it comes to viral content. If you want to capitalize on its sharing prowess and reap the PVs that come with that, then you simply can't take a hard-boiled approach to fluff.
People are just not going to share a cat video of a dead cat."

Ihr schaut euch diesen Text jetzt nicht ernsthaft wegen des Katzenfotos an, oder? Bild: Harald Schottner  / pixelio.de


Die vollständige Wahrheit wollen Menschen nicht hören, erst recht nicht teilen. Man könnte von Schrödingers Katzenvideo sprechen - es funktioniert nur, wenn die Menschen nicht wissen, dass die Katze tot ist. Im Unklaren gelassen werden.


Das ist potenziell fatal in ganz anderem Sinne.

Denn wenn Online-Medien vorrangig nach Traffic-Zielen streben, erhöht das den Druck, reichweitenstärkere, buntere Meldungen zu bringen. (Der Überdehnung durch den Reichweitengedanken habe ich mich unter anderem hier länger gewidmet.)


Reichweite aus dem Social Web

Viral erfolgreiche, also in Social Media signifikant weiterverbreitete Meldungen sind als Trafficbringer dann gerne gesehen. Und mit Blick darauf, wie jüngere Zielgruppen Medien nutzen beziehungsweise an Nachrichten kommen, ist die Verbreitung via Facebook und Twitter ein nicht zu unterschätzender Hebel.

Das Internet ist nach einer BLM-Studie schließlich für fast die Hälfte der 14- bis 29-Jährigen (konkret: 48,6%) das wichtigste Medium, um sich über das Zeitgeschehen zu informieren. Und "Internet" heißt dann wiederum mehrheitlich Facebook. 63,8% dieser Altersgruppe gaben das Social Network als dafür besuchtes Internetangebot an. Dahinter liegen Videoportale (47,2%), erst dann folgen (auch multimediale) Zeitschriften und Zeitungen (jeweils knapp unter 45 %).

Zahlen aus den USA passen gut dazu: Pew Research zufolge verbringen Mitglieder der Generation X (33-47 Jahre alt) und Millenials (18-31 Jahre) signifikant weniger Zeit mit dem Nachrichtenkonsum als Ältere und bevorzugen auch andere Quellen. Bei den Millenials liegt Internet an der Spitze der verwendeten Quellen. Und eine andere Pew-Auswertung kommt zu dem Ergebnis, dass rund ein Drittel der Befragten 18-31-Jährigen News vom Vortag in sozialen Netzwerken gesehen hat - ungefähr gleichauf mit TV und weit vor digitalen oder gedruckten Tageszeitungen.

Soll heißen: Social Media ist durchaus eine wichtige Quelle für Neuigkeiten, gerade für jüngere Zielgruppen. "Ich suche nicht nach Nachrichten, die Nachrichten finden mich schon." Das ist auch beileibe kein schlechter Weg - mich erreicht so auch viel Information. Aber die Eigenheiten dieses Kanals oder Mediums bringen gewisse Verzerrungen mit sich.

Es stellt nun wahrlich keine neue Erkenntnis dar, dass dort "bunte" Inhalte besser funktionieren, mehr Traffic bringen. Und die meisten dürften auch Fälle kennen, in denen ihnen bestimmte Themen auf Twitter oder Facebook zigfach um die Ohren geklatscht werden und andere nur vereinzelt oder gar nicht. Abhängig davon, wie gezielt sich Nutzer ihre Feeds bestücken, versteht sich.


Überzuckerung statt Nährstoff

Wenn wir nun an Sachen mit Mainstream-Viralpotenzial denken, lassen sich folgende Hauptrichtungen festhalten: Es können nette, herzige, positive Eskapismus-Passagen wie das oben erwähnte Katzenvideo sein ("hach, seufz"), Lacher oder auch Dinge, die Menschen zornig machen ("schaut euch das an, unfassbar, ich rege mich auf, denn ich bin ein guter Mensch") - kurz, Stoffe, die Emotionen und Affekte auslösen und damit Situationen, in denen die kognitive Verarbeitungstiefe abnimmt.

Das bunte Intermezzo eben, die kleine Unterbrechung im Alltag.
Oder auch: Der verdammte Flausch, in den sich manche Menschen so tief reinkuscheln, dass er ihnen über die Augen rutscht.

(Nein, ich hab für human interest nicht viel übrig.)

Das ist kein Social-Web-Phänomen, es stellt schlicht menschliches Verhalten dar. Das ist der Grund, warum der Boulevard-Anteil in Medien wächst und warum Bild.de die trafficstärkste deutsche Medien-Site ist (bei T-Online passiert noch einiges andere an Inhalten).

Das Problem für Medien besteht nun in folgendem: Wie erreiche ich Nutzer und bringe sie zu meinen Inhalten, wenn sie nicht meine Markenpräsenz als solche aufsuchen?

Vielleicht durch bunte Inhalte, die sie auf die Seite lotsen und Traffic bringen. Zuckerstücke zum Anlocken. Das stellt aber eine gefährliche Gratwanderung dar. Natürlich, ab und an sind derartige Stücke nett, eine feine Sache. Aber ihr Anteil darf nicht zu groß werden, Redaktionen der süßen Versuchung nicht nachgeben - sonst gibt's allseits Zuckerkranke statt vernünftiger Informationskost.

Und richtig gefährlich wird's dann, wenn man sich den Katzenvideo-Teil bei der Gawker-Diskussion nochmal vergegenwärtigt: Nur kurzfristig auf die eigenen Zahlen, Ziele und das eigene Geschäftsmodell bezogen wäre es demnach für das Medium besser, seinen Lesern keinen reinen Wein einzuschenken. Sie, vielleicht nicht direkt zu belügen, aber manipulativ im unklaren zu lassen. Lüge durch Auslassung.

Das ist der Pfad ins Verderben. 

Es geht hier um zwei Dinge: Darum, wie wir (Informations-)Medien nutzen und wie sie ihren Auftrag verstehen.


Wollen wir lieber unterhalten sein oder informiert?

Cory Doctorows Roman Eastern Standard Tribe beginnt mit einer Szene, in der der Protagonist mit einem Bleistift in der Nase auf dem Dach der Nervenheilanstalt sitzt und darüber nachdenkt, ob er lieber klug oder glücklich wäre - sprich, ob er sich den Bleistift ins Hirn rammen wird oder nicht.

In gewisser Weise sitzt die mediennutzende Gesellschaft vor dem gleichen Szenario und muss sich überlegen, ob sie lieber kurz unterhalten oder informiert sein will. Glücklich oder klug.

Damit hängt das eigene Nutzungsverhalten und dessen Aussteuerung zusammen. Denn nochmal: Natürlich gibt es auch digital qualitativ hochwertige, tiefgehende Inhalte. Es geht hier nicht um Kritik an Online. Es handelt sich auch nicht um einen gänzlich neuen Konflikt, er wurde in anderen Medien auch ausgetragen.

Der andere Punkt ist die Frage, wie Medien damit umgehen. Bunten Schwachsinn bringen, den Lesern Infos vorenthalten? Daraus lässt sich keine Existenzberechtigung für Medien ableiten. (Oder nur sehr finstere, zynische.) Denn den Journalisten oder das etablierte Informationsmedium sollte genau das von x-beliebigen Quellen unterscheiden: Der Anspruch, nur reflektierte, nach bestem Wissen geprüfte Information zu verbreiten. (Anspruch, weil es in der Realität nicht immer so aussieht. Und es geht auch nicht um einen Alleinanspruch. Das kann bei Blogs etc genauso gegeben sein, es ist dort aber nicht als integraler Bestandteil durch die Rubrik vorgegeben.)

Jeff Jarvis fasst das in den griffigen Satz
"Journalists would make a fatal mistake to think that they are viruses when what they should be are the leukocytes that kill them."

Wie kann der Weg dann aussehen? Vertrauen in eine Marke aufbauen. Und unterhaltsamer, packender, auch persönlicher über das berichten, was geschieht und was man als wichtig erachtet. Upworthy versucht sich ja an etwas ähnlichem. Wirklich überzeugt bin ich von den Versuchen aber nicht.

Interessanter ist der Blick ins US-Fernsehen. Den höchsten Anteil von Zuschauern unter 30 Jahren bei Nachrichtenformaten verzeichnen (wieder Pew Research zufolge) dort zwei Sendungen, die sich selbst gar nicht als Nachrichtensendungen sehen: Die Daily Show und der Colbert Report. Comedy-News-Formate. Mit starken Anchormen, die mit Verve und Witz auch große, sperrige Themen anfassen und unterhaltsam, mit Mut zur Meinung und Kante und wahrheitsgetreu berichten.

Das sind interessante Vorbilder. Nicht die Katzenvideos.



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