Samstag, 26. Januar 2013

Schlaglichter auf den Elefanten im Raum - Ein paar Gedanken zu #Aufschrei und dem Wert von Twitter

Seit Donnerstagabend hallt ein Aufschrei durchs Netz, im wesentlichen über Twitter. Über 25.000 Tweets, vermutlich bald über 30000, in denen im wesentlichen Frauen ihre Erfahrungen mit Belästigung und Sexismus im Alltag teilen. Medien - Print und TV wie Online - nehmen sich des Themas an. Den Stein des Anstoßes stellte der Stern-Artikel über Brüderle und dessen Aufdringlichkeiten gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich dar.

Doch darum geht es nicht. Es geht nicht um Brüderle, den Stern, die Frage nach Kampagnen. Sondern um den Elefanten, der im Raum steht. Die Art, wie Frauen oft beruflich wie auch in der Öffentlichkeit behandelt und angegangen werden. Anzüglichkeiten, sexuelle Belästigung, Übergriffe. Dieser Elefant ist nicht im mindesten okay, nur "weil er da schon immer steht". Er ist groß, häßlich und wir Männer nehmen ihn zu selten wahr. Gar nicht, nur im Halbschatten oder nur mit einem Bruchteil seiner Ausmaße. Er reibt sich ja auch nicht an uns. Er legt nicht uns den Rüssel um die Schultern. Steigt uns auf die Zehen. 

Es sind größtenteils Frauen, die sich zu Aufschrei äußern. Es sind eigentlich fast ausschließlich Journalistinnen, die in Medien in den letzten Tagen darüber schreiben. Nicht, weil wir Männer alle Arschlöcher wären, die nicht wissen, "was die Weiber schon wieder haben". Sondern weil wir nicht recht wissen, was wir sagen sollen. ("Wir Männer" stellt natürlich eine Verallgemeinerung dar. Meinetwegen "ich und meiner Wahrnehmung nach die meisten anderen", aber das liest sich einfach schlecht. Dazu später mehr.)

Das ist aber, wenn auch in untergeordneter Ebene, Teil des Problems. Also dann.

Es verlangt große Achtung, dass Menschen ihre Geschichten unter #Aufschrei erzählen. Im vollen Bewußtsein dessen, wie sie dafür von einigen Schwachmaten wieder angegangen werden. So wird das Problem in seinen Dimensionen überhaupt sichtbar. Diese einzelnen Geschichten vermitteln das Ausmaß. Sie stellen keine Debatte dar, dafür eignet sich Twitter auch schlecht. Aber sie verleihen Sichtbarkeit. 


Ich verstehe die Männer nicht, die sich angegriffen fühlen 

Ich verstehe diejenigen Männer nicht, die sich von #Aufschrei angegriffen fühlen. Und die gibt es. Ich meine jetzt nicht die Schwachmaten, die aus purem Rumgetrolle sexistische Scheiße zu dem Hashtag twittern. Das sind schlicht Internet-Trolle aus der Rubrik "Menschen, auf deren Existenz ich verzichten könnte". 

Sondern wirklich diejenigen, die eine Empfindung von Angegriffenheit haben. Sich mit in den Topf geworfen, als unkontrolliertes Triebmonster verunglimpft fühlen. Denn ich lese kein Männer-Bashing als Grundtonalität aus #Aufschrei heraus. Darum geht es nicht.

Erlebnisse sind keine verallgemeinernden Bewertungen. Eine Frau, die von dem Typen erzählt, der ihr im Bus gezielt seinen erigierten Penis in den Rücken gedrückt hat, erlaubt uns einen Einblick in das, was ihr so widerfährt. Daraus lese ich kein "ihr Männer seid alle Schweine". Dieser konkrete Typ ist ein Arschloch, und daran kann es keinen Zweifel geben. Wer das entschuldigt oder okay findet, ist auch eins. Aber das stellt keinen Vorwurf an alle dar.

Das gleiche gilt für diejenigen, die anmerken, dass doch auch Männer benachteiligt werden. Es Väter gibt, die vor Gericht schlechtere Karten haben, wenn es um das Sorgerecht für Kinder geht. Grundschullehrer oder  Kindergärtner schief angesehen, als potenziell Pädophile verunglimpft werden. Auch Frauen überziehen und belästigen können. Auch Männer haarsträubendes und unfassbares erleben können.

Das ist alles richtig. Aber es liegt hier doch kein Dualismus vor. Es geht nicht darum, dass Frauen gut, Männer böse wären. Daraus, dass konkrete Frauen Unfassbarkeiten von konkreten Männern schildern, folgt doch nicht, dass alle so wären oder dass es hier festgezurrte Rollen gäbe: Zwei X-Chromosome, unschuldiges und wehrloses Opfer, XY, willkommen bei den finsteren Triebtätern. Diesen Vorwurf sehe ich hier auch überhaupt nicht.
Und niemand hält diese Männer davon ab, ihre Geschichten zu erzählen. Bei der Weiterung von Aufschrei auf allgemeinen Sexismus gehören die dazu. Sie werden doch nicht aufgehalten, das zu erzählen. Höchstens von einzelnen, aber nicht im Grundsatz. Gibt es unter #Aufschrei auch einzelne Tweets, in denen Männer pauschal das Böse sind? Klar. Aber das ist nicht die Grundtonalität. Ein (zumindest internet-)öffentlich geführter Austausch ist vielstimmig. Das muss er auch sein, so ist die Wirklichkeit. 


Viele Schlaglichter zeigen die Umrisse des Elefanten

Der Wert von #Aufschrei liegt darin, Sichtbarkeit zu schaffen. Mit vielen punktuellen Schlaglichtern den Elefanten, den Typen wie ich meist nicht sehen, zu beleuchten. Bei der Dynamik, die #Aufschrei auf Twitter entwickelt hat, bleibt einem die Luft weg. Für viel dessen, was dort an Erlebnissen erzählt wird, gilt das auch. Das zeigt nur, wie wichtig es ist, über dieses Thema zu sprechen. Die Unfassbarkeiten, die dort zu lesen sind, machen das Problem in seiner Dimension überhaupt erst fassbar. Das bedeutet nicht, dass es zwangsläufig allen Frauen so geht. Dass jede das erlebt. Ich sehe in "das passiert aber doch nur x Prozent von ihnen" aber nicht wirklich ein in irgendeiner Form griffiges Gegenargument. Vor allem, wenn für x Werte wie 60 im Raum stehen.

Dieser Einblick ist wichtig. Denn Männern wie mir ist das meist allerhöchstens abstrakt bewusst. Ich mache mir ja auch keine Gedanken darum, ob ich durch einen dunklen Park laufe oder eine fast leere U-Bahn nehme. Ich muss nicht häufiger Besoffene abwehren, die mir an die Wäsche wollen. Klar könnte ich auch überfallen, zusammengetreten, aus Spaß totgeschlagen werden. Oder vergewaltigt. Passiert Männern auch. Es ist nur statistisch betrachtet so viel weniger wahrscheinlich, dass ich daran keinen Gedanken verschwende. Das soll beim besten Willen nicht bedeuten, dass Frauen verängstigste Häslein sind, die unbedingt starke Männerhilfe brauchen und sich nicht allein vor die Tür trauen. Das wäre totaler Unsinn. Aber die Realität, der sie sich gegenübersehen, ist in Teilen eine andere. 

Das gilt auch für die von Vätern, die ihre Kinder unverschuldet nicht mehr sehen dürfen oder beim Kinderspielplatz mißtrauisch gemustert werden. Die können ihre Geschichten doch bitte auch erzählen. "Nein, denn dann werden sie von einigen Frauen blöd angemacht" kann bei dem, was manche Trolle da gegenüber Frauen von sich geben, kein Argument sein.


Die Probleme eines Twitter-Themas

Natürlich hat ein Hashtag-Mem gleichzeitig seine Probleme. Wie Meike Lobo feststellt, ist viel von dem, was unter #aufschrei gepostet wird, unscharf. In den Kategorien, um die es geht (sexuelle Belästigung und Sexismus stehen in einer gewissen Verwandtschaft, sind aber nicht deckungsgleich), und in der Beurteilung des Geschehenen. Neben unzweifelhaften Übergriffen finden sich Sachen, die sie in die Rubrik "pillepalle" einordnet. (Frau Meikes Text solltet ihr im Übrigen komplett lesen.)

In der Tat ist nicht alles gleich Sexismus: Dass die Frauenmannschaft im Sportverein "die Mädels" sind, stellt nur dann Sexismus dar, wenn die Männermannschaft unter Männer läuft, nicht unter "die Jungs". Dann ließe sich immer noch über die Angemessenheit der Begriffe reden, es wäre aber keine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts.

Und einiges von dem, was unter #Aufschrei kommt, beschreibt Dinge, die nicht jeder als Belästigung sieht, sondern auch mal als Doofheit oder verstolperter Flirtversuch. Es ist trotzdem relevant, diese unterschiedlichen Interpretationen zu sehen.

Insgesamt erscheint es mir sinnvoll, #Aufschrei in der Analyse in Segmente zu unterteilen. Das eine wäre sexuelle Belästigung diversester Spielarten. Das andere breiter gefasster Sexismus - nicht seitens Männern gegenüber Frauen, sondern allgemein.


"Habt euch doch nicht so"

Bei dem, was dort zu sexueller Belästigung erzählt wird, bleibt mir oft nur Entsetzen. Das gilt auch für die Texte von Journalistinnen. Wenn eine Kollegin schreibt, dass es für sie irgendwann schlicht keinen News-Wert mehr hatte, belästigt zu werden, so normal wie Zähneputzen war, dann tun sich Abgründe auf, die ich meist überhaupt nicht sehe. Das Gleiche gilt für Journalistinnen, die das Brüderle-Stück im Stern unter dem handwerklichen Punkt kritisieren, dass Schreiber nicht in ihren eigenen Texten auftauchen sollten. Und den Punkt "unangemessen angegangen werden" achselzuckend unter Normalität abheften. Entsetzen darüber, dass das so häufig passierte, dass es als Normalität galt.

Der Himmel ist blau, morgens putz' ich mir die Zähne, irgendeiner klopft mir heute abend auf den Po oder fällt in meinen Ausschnitt. Wenn das Grauen banal wird.

Der andere interessante Aspekt sind die Kommentare einiger Männer dazu. Auch die, die in die Richtung von "wo ist denn da das Problem?", "habt euch doch nicht so" oder "darf man als Mann denn gar nichts mehr" gehen. Weil sie das Ausmaß von Unverständnis aufzeigen. "Habt euch doch nicht so" ist zudem eine rutschige Kurve, die Übereifrige in den Abgrund von "sie wollte es doch auch" schleudern kann. Kann, nicht muss.

Es geht hier doch überhaupt nicht darum, dass Männer "gar nichts mehr dürften". Auch nicht darum, dass Frauen hilflose Opfer seien. Daraus, dass Frauen auf Grapscher oder Typen, die in der S-Bahn das masturbieren anfangen, aber sowas von verzichten können (wie Menschen allgemein), folgt doch auch nicht, dass der Nächste, der die Frau zwei Tische weiter freundlich anlächelt, Pfefferspray ins Gesicht kriegt. Ich verstehe diese Verschaltung im Hirn nicht. 

Das heißt, bei einigen verstehe ich sie schon: Diejenigen, für die flirten der Frau voll auf die Zehen steigen heißt. "Just a little bit of harmless fun" und so. Das ist aber uncool. Oder Typen, die bei Geschichten zu heftigen Aufdringlichkeiten und Übergriffen ankommen mit "wir sind halt von Natur aus so". Da stellen sich mir die Nackenhaare auf. (Das, liebe Freunde, wäre im Übrigen ein naturgegebener, unwillkürlicher und nicht steuerbarer Reflex. Im Gegensatz zu "der hübschen Blonden in der Disko mal unvermittelt an die Brüste greifen".)


Der Wert von Twitter

Der Wert von #Aufschrei liegt darin, dass ein Thema sichtbar wird. Frauen - und auch Männer - Erlebnisse mitteilen können. Sehen, dass es sie eben nicht allein betrifft. Erlebnisse sind kein allgemeingültiges Urteil. Natürlich stehen da neben Unfassbarkeiten Dinge, die eine Frage der Interpretation sind. Oder Polemik. Oder pillepalle. Es behauptet ja aber auch keiner, dass ich in einer Twitter-Timeline ungefilterte, reine Wahrheit finde. Es handelt sich um Schlaglichter. Was wir daraus machen, stellt den nächsten Schritt dar.

Unterschiedliche Interpretation wird aber erst durch Kommunikation sichtbar. Und darum ist die wichtig. Wir müssen uns nicht über jedes Detail einig sein. Ohne Kommunikation merken wir das aber nicht. Und wenn in einer Situation Sie oder Er klar gemacht hat, dass ihm das unangenehm ist, dann hat Gegenüber das zu achten. Vorher ist es noch nicht zwingend Belästigung. Wenn das Nein ignoriert wird, aber in jedem Fall. Und bei den Unfassbarkeiten gibt es logischerweise überhaupt keinen Diskussionsspielraum.

#Aufschrei leidet darunter, worunter alle Twitter- und viele Netzdiskussionen leiden. In 140 Zeichen passt keine Differenzierung. Vom Platz, von der Zeit, von der Informationsverarbeitungssituation nicht. Dinge kochen hoch, Trolle und Vollidioten spammen rum. Menschen schreiben von "den Frauen" und "den Männern", was natürlich Verallgemeinerungen darstellt. In diesem Text tue ich das auch. Die Verallgemeinerung dient aber der Griffigkeit, nicht der inhaltlichen Aussage, dass das für hundert Prozent gälte.

Es behauptet auch keiner, dass alle Männer oder nur die Mehrheit Schweine wären. Der Punkt ist nur: Es braucht nicht viele davon. In einem Soziologie-Kurs an der Uni haben wir mal durchgerechnet, wie viele Vollpfosten es braucht, damit ein Großteil der Menschen jeden Tag in einem festgelegten Kontext von einem von ihnen genervt wird. Es waren nicht besonders viele. Von den 100 Männern auf der Party können 95 völlig in Ordnung sein. Wenn fünf rumlaufen und jede Frau dumm anmachen, dann reicht das schon aus, um denen den Abend unangenehm zu gestalten.

Die Schlaglichtfunktion finde ich wichtig. Man muss nicht alles unter #Aufschrei auch so sehen, darum geht es nicht. Aber man sollte es als Einblick sehen. Eine Debatte, eine Urteilsbildung, das Ziehen von Konsequenzen - das alles kann nur jenseits von Twitter geschehen. Vielleicht in Blogs. Eher über Medien und den direkten Austausch.

Wir wissen nicht, ob #Aufschrei ein Funke ist, der überspringt, oder ob es wie vieles im Netz eine Verpuffungsreaktion darstellen wird. Auch aufgrund der nach wie vor begrenzten Reichweite von Twitter in Deutschland. Dass der Aufschrei passiert ist und noch immer passiert, das ist - trotz aller Entgleisungen, Spammerei und Problemstellen - wichtig. Und das wäre über die klassischen Medien allein nicht passiert. Twitter kann, trotz aller Unzulänglichkeiten, Dinge sichtbar machen und anstoßen. Die weiteren Aufgaben liegen anderswo.

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