Mittwoch, 8. August 2012

Shitstorms sind überbewertet. Schluss mit dem Hype!

Aktuell erlebt Social Media stürmische Zeiten, es herrscht ein Auf und Ab. Während sich die Facebook-Aktie und mit ihr die Hoffnungen der Börsianer im Sturzflug befindet, hat ein anderes Thema Hochkonjunktur: Shitstorms. 

Ein Phänomen, das seit einigen Monaten eine üble Inflation und gerade einen richtigen Hype erlebt. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber für mich ist es höchste Zeit, dass die Shitstorm-Blase platzt.

(Hiermit entschuldige ich mich bei Lesern mit ausgeprägtem visuellen Vorstellungsvermögen.)

Denn Shitstorms sind überbewertet.

McDonald’s, Vodafone, Galileo, H&M, der kleine Kiosk um die Ecke – halb Corporate Facebook sieht sich einer Masse erzürnter User gegenüber, die auf dem besten Weg ist, das Sommerloch als Jauchegrube zu füllen. Könnte man meinen. 

Bild: Fritz Zühlke / pixelio.de

Und Unternehmen überkommt die blanke (und vor allem sehr deutsche) Angst: Da haben sie sich schon in Social Media hineingewagt (quasi die neue Modellreihe von diesem Internet) und dann haben die Kunden auf einmal nicht nur eine Stimme, sondern benutzen diese auch noch, um sich zu beschweren. Und das, wo die Unternehmen doch so lang und hart an dem Bild arbeiten mussten, dass sie nur glückliche Kühe Kunden haben.

Shitstorms entwickeln sich zum Angstgegner der Unternehmen in Social Media. Doch Angst ist eine gewisse Irrationalität immanent. Wie groß und böse ist der Bogeyman des Social Web nun also wirklich?

Mir geht es jetzt gar nicht um die durchaus interessante Fragestellung, was von der Aufregung auf Facebook-Seiten, den wütenden Kommentaren und dafür vergebenen Likes echt ist und was vielleicht durch Manipulationen unterstützt. Mir geht es schlicht darum, den Schrecken zu erkunden. 

Die TL;DR-Fassung: Gemach, ist alles nicht so schlimm, werdet erwachsen.

"Eckaaaaart, die Wut-User kommen!"

Die Inflation wird momentan von einem simplen Mechanismus mitbefeuert. Denn ganz passend zur Hypedefinition wird das Etikett Shitstorm gerade sehr freigiebig verteilt. Zwei sind ein Paar, drei sind eine Gruppe, vier ein Shitstorm.

Nein, so schlimm ist es natürlich nicht. Aber wir haben keinen offiziellen Grenzwert. Sind 10 Beschwerden ein Shitstorm? 100? 1000? 10000? In Relation zu was? Bei den oben genannten Fällen war es von der Zahl her schon gerechtfertigt, von Fäkalwindhosen zu schreiben. Das ist aber nicht immer so.

Und am Ende des Tages (wenn der Proteststurm dann schon vorbei ist, ist Panik übrigens ohnehin witzlos) geht es doch darum: Wo liegt der Schaden?

Greifen wir uns Galileo heraus: Nutzer beschweren sich über das TV-Format und bezeichnen die Macher als unfähige Pfosten, die in ihrem Wissenmagazin nicht mal erklären könnten, bei welcher Temperatur Wasser kocht (verkürzt und paraphrasiert, die Kritik war eigentlich noch härter und persönlicher). 100000 Likes sammelt so was.

Oder Vodafone: 7000 Kommentare, 70000 Likes auf harte Kritik am Service, Probleme beim Kündigen und Umstellen von Telefonverträgen. 

Und? So what?

Wann sind Shitstorms mehr als nur virtuelle Phänomene?

Die Frage, die sich doch stellt, lautet: Folgen aus dem Protest der Nutzer tatsächlich negative Konsequenzen? Sonst handelt es sich um ein rein virtuelles Phänomen. Nicht, weil es online stattfindet, sondern weil es keine Auswirkungen zeigt.
Etwa Galileo: Da hat sich auch viel Frust über als schlecht empfundenes TV-Programm im Allgemeinen entladen. Man muss nun aber nicht in Feuilletons blättern, um auf die Parole zu stoßen, dass Privatfernsehen oft anspruchslose Grütze sei. Was den Quoten nicht wirklich schadet.

Das Gleiche bei Vodafone: Ziehen die Nutzer denn Konsequenzen? Oder hat das Schimpfen gewissermaßen therapeutische Wirkung und nach dem Ablassen von Dampf im Gemütserhitzer Social Media ist alles wieder gut?

Denn ganz ehrlich: Von zehn Leuten können acht Horrorgeschichten über ihren Telekommunikationsanbieter erzählen. Wie viele mögen denn ihren Handy-, Telefon- oder Internetprovider? Wenn sie aber keine Konsequenzen draus ziehen, wen juckt’s? Marken sollten es zwar vermeiden, von Kunden gefürchtet zu werden, ansonsten ließe sich aber (sehr) frei nach Macchiavelli durchaus fragen: "Ist es besser, geliebt zu werden als gekauft, oder verhält es sich umgekehrt?"

Anders gesagt: Für viele Marken ist die Dimension Sympathie schlicht nachrangig. Wenn der Kunde die direkte Konkurrenz für genauso schlecht hält, braucht er mich nicht lieben, solange er mir brav Geld zahlt. NBCs Umgang mit Olympia etwa sorgte für reichlich Häme und Aufregung im Netz unter dem Banner von #NBCfail. Gleichzeitig vermeldet der Sender Rekordquoten.

Wenn Konsumenten ihre aus Mündigkeit erwachsende Macht nicht bewusst wird oder sie diese zumindest nicht einsetzen, dann verliert der Schrecken seine Wirkung, der Skorpion den Stachel. Wenn sie sie denn überhaupt schon gewonnen haben. Schon mal gesehen, wie sich ein Marketer das Lachen verkneifen muss, wenn er vom mündigen Kunden spricht?

Die Reputations-Gurus, die jetzt schon tief Luft holen, sollen die bitte noch einen Moment anhalten, denn ich werde gleich noch grundsätzlicher: Einer signifikanten Zahl von Skandalen geht nämlich ohnehin die Nachhaltigkeit ab. Mit und ohne Social Media.

Fressen, Moral und verpuffte Aufregung 

Denken wir an Lebensmittelskandale oder auch an Berichte über schlechte Arbeitsbedingungen bei E-Commerclern wie Zalando und Amazon: Kollege Kolbrück hat da was sehr schlüssiges über verlogene Empörung geschrieben. Im Grunde ist es doch so: Kurze, aber heftige Aufregung, die dann verpufft.

Händeringen und Entrüstung über untragbare Zustände für wenige Tage. Und dann kehren wir zum Alltag zurück, mit dem warmen Gefühl, unserer Bürger- oder auch Nutzerpflicht durch Entrüstung nachgekommen zu sein. "Ich bin ein guter Mensch, ich hab mich doch aufgeregt!" Der Wut-Post als Ablassbrief. Denn im Supermarkt oder bei der E-Commerce-Bestellung geht es den meisten dann doch wieder nur um den Preis. Brecht schrieb, "erst kommt das Fressen, dann die Moral". Und hier? Erst kommt der Wut-Post, dann - nichts?

Deshalb ändert sich ja auch nichts an diesen Zuständen. Und jetzt wollt ihr mir sagen, dass das durch das noch schnellere Medium Social Media nachhaltiger wird? Ach bitte.

Natürlich reagiert die Kommunikationsabteilung dann richtig, wenn sie die Kritik auf- und annimmt. My Bad, Mea Culpa, Asche auf unser Haupt, wir werden uns bessern. Und die Karawane zieht weiter. Wenn danach nichts passiert, kann die Kommunikationsabteilung nichts dafür – weil es meist gar nicht in ihrer Macht steht, die Dinge zu ändern. Die unbequeme Frage lautet: Müssen die Unternehmen denn überhaupt etwas ändern?

Noch schöner wird’s bei inhaltsfremden Shitstorms. Die ING DiBa hat doch keinen einzigen Bankkunden verloren, nur weil Wut-Veganer als Protest gegen die Nowitzki-Werbung mit der Metzgerei die Facebook-Präsenz der Bank belagert haben.

Weil denen der Aufstand schlicht egal war ("es war ihnen wurst" wäre hier ein zu billiges Wortspiel, insbesondere, weil es schon gut abgehangen ist). Wenn sie’s denn mitgekriegt haben. Denn was ein echter Proteststurm sein will, muss durch mediale Betrachtung angefacht werden.

Stell dir vor, es ist Shitstorm und keiner schaut hin.

Denn das ist ja der Witz, wenn jemand die Hände darüber ringt, dass die Facebook-Seite eines Unternehmens vollgespammt wird: Von deren Fans sieht das doch kaum einer. Der Anteil von Fans, die tatsächlich regelmäßig auf die Profilseite gehen, ist überschaubar. Der Kontakt zu ihnen besteht über den Newsfeed, in dem die Marken-Posts erscheinen, aber nicht die an der Markenpinnwand angeheftete Kritik.

Was ein waschechter Shitstorm werden will, braucht also Multiplikatoren. Das können Nutzer sein, aber gerne auch Medien. Fragt mal beliebige Menschen, über welchen Weg sie von Nutzerprotesten erfahren haben in der letzten Zeit. Damit wird der Shitstorm zum quantenphysikalischen Phänomen: Er entsteht durch die Beobachtung. Ohne Aufmerksamkeit kein Schaden.
Natürlich, die Grundmenge der Protestler findet die Seite ja. Und deren Freunde sehen, was sie kommentieren. Aber welche Relevanz hat diese Zahl, verglichen mit der durchschnittlichen Kundenzahl eines Unternehmens oder dem Publikum eines TV-Formats?

Aber...

Man mag nun einwenden, dass sich sehr wohl negative Folgen skizzieren lassen, zumindest für das Image. Und die sich dann mittelfristig aufs Geschäft auswirken. Soll heißen: Das tatsächliche eigene Äußern von Beschwerden oder Zustimmung zu Beschwerden und das positive Feedback der Mitprotestierenden wirken sich kognitiv so aus, dass der Einzelne in der negativen Haltung gefestigt und bestärkt wird. Und daraus wiederum folgt mittelfristig eine Prädisposition, mit dem Unternehmen nicht weitere Geschäfte abzuschließen oder bei nächster Gelegenheit zu wechseln.

Und natürlich gibt es Branchenfelder, in denen Sympathie eine relevante Dimension darstellt und auch das Wettbewerbsfeld so geschaffen ist, dass mir Imageschäden weh tun, weil Kunden bessere Alternativen sehen.

Aber lässt sich das verallgemeinern? Aus einer normativen Erwartungshaltung lässt sich schließlich keine Realitätsbeschreibung ableiten. Soll heißen: Dass es unserer Meinung nach so sein sollte, heißt noch lange nicht, dass es auch so ist.

Was wir brauchen, sind mehr Daten. Darüber, welche Art von Shitstorm welche Art von Folgen nach sich zieht. Dazu gehört eine vernünftige Typologie zu Shitstorms, ihre jeweilige Anatomie und vor allem mehr Unaufgeregtheit.

Natürlich ist es richtig, als Unternehmen Schaden vermeiden zu wollen, kommunikativ auf Proteste einzugehen. Denn wenn es entsprechende Grenzen und Schwellwerte gibt, ab denen es wirklich schädlich wird, sollte man reagieren, bevor die erreicht sind. Die hitzige Panik zu diesem Thema nervt aber nur und ist auch überflüssig.

Das können freilich auch Wachstumsschmerzen sein. Nachdem Social Media ja den Kinderschuhen entwachsen ist, befindet sich das Segment gerade irgendwo in der Pubertät. Shitstorms und Aufregung darüber sind dann dem hormonellen Chaos geschuldet. Stimmungsschwankungen und seltsames Verhalten bei Teenagern - klingt jetzt nicht so ungewöhnlich und welterschütternd, oder?

Vielleicht kann uns Social Media ja dabei helfen, insgesamt erwachsener zu werden. So wie – perspektivisch betrachtet – die Dokumentiertheit des Lebens hoffentlich dazu führt, dass Personaler künftig keinem Bewerber blöd kommen, weil er zehn Jahre vorher auf Studentenparties war, sondern das unter "passiert" und "vergangen" abhaken, so akzeptieren wir perspektivisch vielleicht auch als User und Marken, dass nicht jedem alles gefällt. Und Probleme dazugehören.

Ein kleiner Silberstreif, den ich euch und mir zum Schluss lasse.


3 Kommentare:

  1. Ein sehr interessanter Beitrag, in dem schon viel Wahrheit steckt. Bezüglich Deiner Aussage: "Was wir brauchen, sind mehr Daten. Darüber, welche Art von Shitstorm welche Art von Folgen nach sich zieht. Dazu gehört eine vernünftige Typologie zu Shitstorms, ihre jeweilige Anatomie und vor allem mehr Unaufgeregtheit." verweise ich auf meinen Blog: http://my-shitstorm-diss.posterous.com/

    Leider hat mein Blog nur eine begrenzte Reichweite, daher wird er in der Shitstorm-Diskussion im Netz kaum wahrgenommen. Auch halte ich mich mit unbewiesenen Thesen zurück. Davon gibt es genug. Erst beende ich die Empirie, dann sehen wir weiter. Also nicht die Hoffnung verlieren, die Bildung von Typologien ist mit das Hauptziel meiner Arbeit.

    Viele Grüße
    Christian

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    1. Hallo Christian,
      danke, deinen Blog hatte ich schon gesehen. Ich fände es spannend, da mit dir (dann für einen dienstlichen Artikel) zu reden, wenn du in der Empirie weiter bist!

      LG,
      Ralph

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  2. Gerne. Die Empirie wird aber wohl noch bis nächstes Jahr brauchen. Unter 30 Fallbeispiele lohnt das ja gar nicht :) Nochmal Lob für den Beitrag. Deine Seite habe ich abgespeichert. Grüße

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